Pécs: Begegnung mit mir selbst

Zwischen den letzten beiden Einträgen über Pécs ist eine Woche vergangen. Das bedeutet aber nicht, dass ich nichts geschrieben habe. Im Gegenteil: Ich überarbeite ein Romanmanuskript, texte Blogartikel - und ich schreibe sehr viel in mein Notiz- und Tagebuch. Am liebsten in einem Café, mit Geschirrgeklapper, dem Zischen der Kaffeemaschine und den Stimmen der anderen Gäste um mich herum. Dann stellt sich dieses Gefühl konzentrierter Zeitlosigkeit ein, das die Ideen fließen lässt.

 

Durch das Schreiben leben

Auch darum bin ich hier: um Raum für mein eigenes Schreiben zu haben, in einer fremden und anregenden Umgebung. Denn wie viele Autoren und Autorinnen habe ich einen Erstberuf, von dem ich hauptsächlich lebe. Diese vier Wochen bieten mir das Privileg, mich einmal nur dem Schreiben hingeben zu können. Weil es das Pécs Writers Program gibt, das Oberpfälzer Künstlerhaus und nicht zuletzt meine Kollegin, die mir in vier Wochen unbezahltem Urlaub den Rücken freihält.

Vielleicht lebe ich nicht vom Schreiben - auf alle Fälle aber durch das Schreiben. Für meinen Aufenthalt hier hatte ich mir vorgenommen: Jeden Tag ein Gedicht, um das Erlebte, das Gesehene festzuhalten und zu gestalten. Das klappte aber nur am Anfang. Stattdessen füllte ich bald Seite um Seite meines Tagebuchs.

 

Luft zum Atmen oder: Wer bin ich?

Wer bin ich, wenn ich so gut wie aller Pflichten enthoben bin? Was darf sich zeigen? Wie aufregend oder gar beängstigend ist die Begegnung mit mir selbst?

Es ist keine Überraschung, dass ich viel Zeit für mich benötige. Nach zwei Todesfällen in der engeren Familie Ende 2014 war der Bogen immer straff gespannt, ich funktionierte gut - zu gut vielleicht. Wie immer gab das Schreiben mir Trost und Sicherheit, doch das Leben kam mir immer schneller, immer voller vor.

Jetzt ist plötzlich Luft zum Atmen. Und ich genieße es, bis hin zur Einsiedelei. Die Stadt macht es mir leicht, alleine unterwegs zu sein; die Museen, die Moscheen, Synagogen, Kirchen, das Zsolnay-Kulturviertel auf dem Gelände der Keramikfabrik und die Konferenz, an der ich vergangene Woche teilnehmen durfte. Sie bescherte mir Einblicke darein, was es bedeutet Kulturhauptstadt Europas zu sein (wie Pécs 2010), zu werden oder sich überhaupt nur um den Titel zu bewerben - gerade auch für Städte in Osteuropa. Denn die Sicht des Westens ist - aus meiner eigenen, sehr subjektiven Perspektive - doch oft ziemlich eingeschränkt gegenüber der Vielfältigkeit und Geschichte der neueren Mitgliedsstaaten der EU.

 

Eine Frage der Perspektive

A propos eingeschränkte Sicht. Wenn ich schreibe, kommen "meine" Themen nicht explizit daher, sondern zeigen sich im Spiegel des Erlebten.

Wenn ich durch eine Stadt spaziere, deren offizielle Landessprache ich nicht beherrsche, und mir die Menschen auf unterschiedlichste Weise entgegenkommen - sich um mich und meine Bedürfnisse bemühen.

Wenn ich auf jüdische Spuren stoße, auf osmanische - und auch auf deutsche.

Wenn ich auf Menschen treffe, die in Ungarn oder Rumänien (wie meine Konferenz-Sitznachbarin) beheimatet sind - und die das über Jahrhunderte bewahrte kulturelle Erbe ihrer deutschen Vorfahren als Teil ihrer Identität begreifen.

Wenn ich auf der Seite des ungarndeutschen Lenau-Vereins lese: "Der Lenau Verein nimmt zwischen Ungarn (unsere Heimat) und Deutschland (unsere kulturelle Mutternation) eine Brückenrolle wahr."

Dann denke ich über Heimat nach und über Identität. Und ich frage ich mich: Wie können wir in Deutschland heutzutage annehmen (oder verlangen), dass Zuwanderer sich möglichst schnell und unauffällig "integrieren"? Speist Identität sich nicht immer aus mehreren Quellen - und in manchen Fällen eben aus sehr unterschiedlichen?

 

Was heißt das eigentlich: Heimat, Integration, Identität?

Meine Heimat ist Niederbayern. Ein Landstrich, in dem es weniger jodelt als im bekannteren Alpen-Bayern. Wo die Menschen verhaltener und trotzdem lustig sind. Ein Donauland. Dort bin ich geboren und aufgewachsen und es hängen Gefühle daran. Vollständig integriert fühlte ich mich dort aber nicht: Meine Eltern, die Flüchtlingskinder, hatten eine andere, durch den Nationalsozialismus verwirkte Heimat. Der Dialekt und der nicht-katholische Glaube unterschieden sie von der alt-eingesessenen Bevölkerung. Ich selber lernte Niederbayerisch in der Schule, durfte im Schulgottesdienst nicht zur Kommunion ("die Bösen und die Evangelischen sowieso nicht"), und das mit Schlesien war ein irgendwie exotisches Echo aus fernen Zeiten. Ein familiäres Hintergrundtrauma, mit dem ich nicht unmittelbar etwas zu tun hatte.

Erst heute - ja, vielleicht erst seitdem ich in Pécser Cafés diese vielen Tagebuchseiten zu Papier gebracht habe - komme ich diesem diffusen Gefühl auf die Spur, das mich so lange schon begleitet; ein Gefühl, das mich manchmal rast- und ratlos macht und das sich in vielerlei Gestalten zeigt. Da ist der Bruchteil eines Zögerns, mit dem ich manch spontane Gelegenheit ungenutzt vorübergehen lasse. Da ist die Leere, die sich manchmal auftut, wenn ich auf mich gestellt bin und Entscheidungen nur von meinen eigenen Bedürfnissen abhängen. Oder die Freude der Begegnung, die sich manchmal wie ein Schock anfühlt und tieferen Kontakt verhindert. Dabei mangelt es mir nicht an Selbstbewusstsein. Das Gefühl geht tiefer: Es ist das Gefühl von Nicht-Zugehörigkeit, vielleicht sogar von Nicht-Berechtigtsein. Die Angst, Raum einzunehmen, vor allem auf unbekanntem Terrain.

Es tut gut, es zu benennen. Denn wie so viele Gespenster scheut dieses Gefühl das Tageslicht; jetzt, wo ich darüber schreibe, beginnt es sich schon aufzulösen. Was natürlich auch mit dem Prozess zu tun hat, der diesem Text voranging.

 

Es hilft, den Fuß auf unbekanntes Land zu setzen

Ich bin berechtigt, hier zu sein. Jemand hat mich mit diesem Stipendium ausgezeichnet und in meinen Texten gelesen, dass ich es verdiene. Und fand nichts "Unberechtigtes" daran, dass ich während des Schreibstipendiums auch biografisches Material poetisch aufarbeiten wollte.

Nun lebe ich den Traum, Vollzeit-Schriftstellerin zu sein. Ich darf stundenlang in einem Café sitzen und über mich selbst schreiben. Das mag nicht gesellschaftsrelevant sein, doch für mich persönlich sehr bedeutsam. Und es lehrt mich wieder etwas über (biografisches) Schreiben. Ich bin berechtigt, hier zu sein - mitten in Europa. Ich kann überall hinreisen, in alte und neue, in eigene und fremde Heimaten und selbstverständlich auch in meine Phantasiewelten.

Dabei bin ich nicht auf der Durchreise. Ich komme an, und ich werde wieder nach Hause fahren. Dazwischen BIN ich. Hier. Und mache Erfahrungen, die in die Substanz meiner literarischen Arbeit einfließen werden. Mein Schreiben ist eine zuverlässige Heimat, eine geografisch unabhängige Wurzel auf dem Kompost meiner Herkunft.