Die Geschichten liegen auf der Straße

... oder stehen auf dem Parkplatz. Gestern spricht mich vor dem Supermarkt eine Dame an, auf Englisch mit italienischem Akzent. Sie öffnet ihre große gelbe Plastiktüte, in der ich einige Gläser und Flaschen erspähe. Wo sie diese abgeben könne? Da fällt mir nur der Glascontainer in der Nähe meiner Wohnung ein, einen guten Kilometer entfernt von hier. Schon bittet mich die Frau, ihr Altglas zu übernehmen. Sie wirkt freundlich und ehrlich in Nöten: Heute ist ihr letzter Tag in Regensburg, und offensichtlich will sie ihre Ferienwohnung sauber hinterlassen. Das weckt irgendeinen verborgenen deutschen Gastgeberimpuls in mir - schon strecke ich die Hand nach der Tüte aus; sie müsse das Zeug auf keinen Fall mit nach Italien nehmen, versichere ich ihr. Sie verabschiedet sich erleichtert. Und ich lege die Tüte in den Kofferraum. Auf dem Heimweg frage ich mich: Was, wenn doch nicht nur Altglas drin ist? So genau habe ich schließlich nicht hingeschaut. Es könnten auch Drogen drin sein oder Waffen. Aber mein Instinkt sagt, dass alles in Ordnung ist. Außerdem bin ich neugierig, welche Geschichte der Inhalt der Tüte erzählt. Am Glascontainer hole ich eine Champagnerflasche und drei große Schraubgläser heraus, in denen sich laut Etiketten Sellerie bzw. saure Gurken befanden. Außerdem eine Flasche Wodka Imported from Russia, darunter kyrillische Schriftzeichen. Ich stelle mir ein italienisches Paar mittleren Alters vor, das für ein paar Tage Urlaub in der Domstadt macht. Was sind das für Leute, die in der kurzen Zeit eine ganze Flasche Wodka austrinken? Oder haben sie das Zeug von zu Hause mitgebracht? Und der viele Sellerie? Man sagt ihm ja potenzsteigernde Wirkung nach... Fragen über Fragen, die mich, wenn ich wollte, tief in eine Geschichte führen könnten. Wenn man nur ein bisschen die Augen offen hält und sich auf Begegnungen einlässt, bietet sich täglich jede Menge Stoff zum Schreiben.